Ein Stadtfuchs in Berlin

Flower
Experten schätzen, dass in Berlin ein paar tausend Füchse leben. Es ist also gar nichts besonderes, einem zu begegnen. Aber ihnen zu begegnen und dann etwas aus dieser Begegnung zu machen, das sind zwei völlig verschiedene Sachen. Selbst Seeed-Sänger Peter Fox, der schon wegen seines Namens besonders sensibel auf den kleinen roten Vulpes vulpes reagieren müsste, ist bekanntlich lieber Stadtaffe als Stadtfuchs. Aber es gibt ja noch Tobias Vethake. Vethake ist Musiker wie Fox, aber lange nicht so laut und lange nicht so bekannt. Er hat aber sehr viel mehr Musik gemacht: Als Sicker Man veröffentlicht er gerade seine siebte Platte, ein Konzeptalbum namens Vicca Tantrum, das sich dem schwierigen Leben des Stadtfuchses Victor alias Vicca widmet.

Diesen Fuchs – und dessen Tantrum, dessen Wutausbruch – hat sich der 38-Jährige ausgedacht, aber erst nach der Begegnung mit gleich zwei echten Füchsen. Zum einen wäre da der „Schering-Fuchs“, wie ihn Tobias Vethake nennt, ein Tier, das er regelmäßig zur gleichen Zeit bei sich im Wedding frühmorgens die Straße überqueren sah. Zum anderen eine Art Problemfuchs aus einer TV-Dokumentation: Jeden Tag entdeckten ihn Arbeiter an einer Baustelle am Nordbahnhof in Mitte, jeden Tag riefen sie den Tierschutz, der ihn zum Teufelsberg brachte, am nächsten Tag war das Tier wieder da:„Im Wald kann er nicht mehr leben, in der Stadt offensichtlich auch nicht. Stadtfüchse führen ein Parallelleben, im Prinzip das, was ich auch tue, solange man mich nicht weggentrifiziert“, sagt Vethake. Während er das sagt, fallen einem seine rotschimmernden Koteletten auf. Und dann erzählt er auch noch, dass sein Großvater ein ähnlicher Typ wie er gewesen sei und von allen immer „Füchschen“ genannt worden sei.
Bevor jetzt aber ein völlig falscher Eindruck entsteht: Tobias Vethake ist kein frustrierter oder hypersensibler seltsamer Musiker vom Lande, der Angst hat, in Berlin unter die Räder zu kommen. Sondern er ist ein Künstler, der weiß, wie er klingen will. Sein Album ist auch nicht das verquaste Werk eines Träumers, sondern ein ernstes, tiefgehendes Werk: so stilsicher wandeln nicht viele Produzenten auf dem schmalen Grat zwischen experimentell und poppig wie der im Industriestädtchen Gütersloh geborene Wahlberliner. Melancholisch singt er, zum Teil unterstützt von seiner Frau Kiki Bohemia, dazu kommen verdammt schöne elektronische Melodien und Flächen, Klavier-Sprengsel, Streicher und irgendwo rauscht auch eine U- oder S-Bahn vorbei. Ein bisschen versteht man, warum der Sicker Man sich einst Sicker Man genannt hat: gehaucht und ruhig, erschöpft und schwach wie ein kranker Mann, so fühlte er sich oft nach langen Arbeitstagen und so klingt er auch heute noch, wenn er denn will.
Wenn allerdings Troubled Mind, der zweite Song auf Vicca Trantrum mit einer wunderbar elektronischen Bassmelodie anfängt, dann ist alle Müdigkeit verflogen. Dann trifft Prokofjews „Peter und der Wolf“ auf Pink Floyds „Dark Side of the Moon“ und Vethake lässt den Vollblutmusiker heraushängen. Mit elf lernte er das Cello zu spielen, später liebäugelte er damit, Musiklehrer zu werden und brach dann doch das Studium ab. Er brachte er sich selbst diverse Tasten- und Saiteninstrumente bei, ging nach Berlin, machte Musik für Film und Fernsehen und jetzt, neben seiner Arbeit als Sicker Man und in anderen kleineren Projekten verdient er sein Geld als Theatermusiker.
Die Geschichte von Victor, dem Stadtfuchs, setzt Vethake dementsprechend vor allem mit musikalischen Mitteln um, nicht so sehr in den Texten: „Der Fuchs ist ja jemand, der nicht wirklich in die Gesellschaft gehört, die ihn umgibt. Und der mit dem Lärm und der Hektik, die ihn umgeben, nicht richtig gut klarkommt. Deswegen ist die erste Hälfte des Albums elektronischer.“ Und auch ausufernder, epischer. Im zweiten Teil der Platte bzw. auf der B-Seite der Vinylausgabe, geht es für den Fuchs raus aus der Stadt. Die Klänge werden akustischer, aber auch im Wald gefällt es ihm nicht, dem Fuchs oder dem Sicker Man, die da schon längst eins geworden sind. Zum Schluss sind sie und wir dann wieder da, wo alles angefangen hat, in der Stadt. Über acht Songs erstreckt sich diese Reise, alle Instrumente hat der Sicker Man selbst eingespielt, auf immer wieder neue Spuren, loopartig, ohne das im Anschluss noch groß am Computer zu bearbeiten. Hin und her flirren die Effekte, mal mit, mal ohne Beats, mal schneller, mal langsamer, immer wieder scheint eine Gitarre durch. Wirklich gute Songs, die auf Ideen fußen, die der Musiker nachts in ein Diktiergerät trällert. Das Ergebnis klingt sehr viel größer, als es dieser Produktionsmodus, als es das überschaubare Heimstudio in seiner Weddinger Wohnung vermuten ließen.
Eine Maske hat der Stadtfuchs Tobias Vethake natürlich auch. Sie ist in seinen Videos zu sehen, sie ziert das Albumcover und sie ist nicht so realistisch wie die Pandamaske vom Rapper Cro, nicht so albern wie der silberne Totenkopf, hinter dem sich Sido einst versteckte. Sie ist kunstvoller, stilvoller und vor allem ziemlich unpraktisch: „Das ist leider ein bisschen abgegriffen. Ich kann mit der Maske auch nicht richtig singen. Aber die Maske kommt mit auf die Bühne.“ Nicht, um das Ich zu verstecken, sondern um zu zeigen, das Sicker Man mehr ist als auf Platte gepresste Musik, dass das Projekt in die Kunst hineinreicht. Außerdem: Ein paar neue Ideen können nicht schaden. Denn nach über zehn Jahren ohne den großen bahnbrechenden Erfolg, so gibt der Musiker zu, muss man sich schon ein bisschen anstrengen, um die Dinge für sich selbst interessant zu halten:„Ich versuche, mich in einem Zwischenfeld zu bewegen. Da kann man mir vorwerfen, dass ich völlig falschen Voraussetzungen ausgegangen bin, als ich angefangen habe: Ich dachte, wenn ich poppig UND experimentell an die Sachen rangehe, dass ich dann die doppelte Zahl von Leuten anspreche. Aber das Gegenteil ist richtig.“ Nicht auf, sondern zwischen den Stühlen sitzt er also, dieser moderne Stadtfuchs. Vielleicht aber kann vecca tantrum dieses Dilemma lösen. Poppig genug ist das Album, um im Szene-Café um die Ecke selbst gegen Lieblinge wie The XX oder Beach House zu bestehen. Große finanzielle Hoffnungen hat Tobias Vethake allerdings nicht. Der Musiker, der auch gleichzeitig Betreiber des Plattenlabels blankrecords ist, steckt seine Energie in die Inhalte seiner Songs, „aber sehr wenig in das Verbreiten der Inhalte.“ Zur eigenen Unvollkommenheit kommen dann noch die äußeren Umstände: Berlin duldet seine Stadtfüchse, aber besonders gut behandeln tut es sie nicht.