Dem Hype ein Schnippchen geschlagen!

Flower
Vielleicht hat es sich schon rumgesprochen: Ich bin großer Fan von Vegard Vinge und seinem Extremtheater. Und jetzt gab es endlich Neues von ihm und seiner Mitstreiterin Ida Müller (ein Mensch namens Trond Reinholdtsen mischt auch mit, ich glaube, er sorgt für Geräusche und Musik). Große Verwirrung jedenfalls bei der Premiere ihres neuen Stücks, wie gehabt im Prater der Berliner Volksbühne angesetzt. „Das 12-Spartenhaus“ heißt das Ganze. Und was soll ich sagen? Grande Enttäuschung bei dieser Premiere. Dreieinhalb Stunden durften wir im Foyer ausharren und wurden dann nach Hause geschickt, ohne dass sich die Türen zu Zuschauerraum und Bühne geöffnet hätten. Schlauer (also in Sachen „Was ist eigentlich ein 12-Spartenhaus?“) war danach auch keiner.
Nicht viel ließen Vegard Vinge, seine langjährige Partnerin Ida Müller und Sound-Experimentator Thor Reinholdtsen im Vorfeld über ihr gemeinsames Projekt namens „Das 12-Spartenhaus“ verkünden. Eigentlich gar nichts. Sollte sich dahinter ein neues, selbstgeschriebenes Stück verbergen? Oder ein ganzes Konzept, der neue Name des Praters vielleicht, dieser Außenspielstätte der Berliner Volksbühne? Nach der Premiere am Samstag, dem 4. Mai 2013, ist selbst das nicht geklärt: Vinge, als Regisseur ein Diktator, an dem Zuschauer und Theater-Techniker mitunter verzweifeln, hatte den meisten Schauspielern seines Ensembles am Premierenabend freigegeben – er brauchte sie nicht, da er nur kleinste Häppchen seines Universums präsentierte. Aus der erwarteten langen Nacht – Vinge-Stücke dauern mitunter mehr als 12 Stunden – wurden unerwartete kurze dreieinhalb Stunden.

Was gab es zu sehen und zu hören? Ein sehr liebevoll gestaltetes Foyer, an die Wände und Decken gemalte Gesteins- und Fliesenmuster im Comicstil, der schon die letzten Inszenierungen von Vinge/Müller dominierte. Drei oder vier Schauspieler, die, hinter grusligen Masken versteckt, regungslos durch Scheiben auf die Zuschauer starrten, bis sie zu eingespielten Wortfetzen Köpfe und Hände bewegten: „Mäßigung“ und „Eine gute Atmosphäre“ wurden in Geisterbahnmanier gefordert, oder auch, in dutzen-, vielleicht sogar hundertfacher Wiederholung, ein Satz wie „Ich nehme an, Sie sind geschäftlich hier“. In einem anderen, ebenfalls durch Glasscheibe abgetrennten Raum, entnimmt eine Art Arzt einer bläulich schimmernden Leiche Innereien und lacht dazu verrückt – Horrorfilm trifft Zeichentrick, lethargisch liegt der einzige unmaskierte Schauspieler des Abends, Volksbühnen-Inventar Volker Spengler, im Krankenhauskittel auf einer Liege und schaut ins Leere.

Auf drei Videowänden dann immer mal wieder Bilder aus dem Innenraum des Praters, von dort also, wo die Zuschauer nicht hindurften. So viel konnte man erkennen: Auch dort ist mit viel Liebe zum Detail gemalt und gebaut worden, sich selbst scheint Vinge eine Art „Führer-Loge“ eingerichtet zu haben. Im neu erschlossenen Untergeschoss, das zeigen weitere Videobilder, scheint das Innere eines U-Boots nachgebaut worden zu sein – dementsprechend erklingt die Filmmusik von „Das Boot“, als hier ein Kapitän in Phantasie-Uniform den Gang hin und her wankt.Überhaupt: Die Musik! In ohrenbetäubender Lautstärke und in Endlosschleife wird das Foyer mit David Guetta beschallt. Und dann, als Gegenmittel, mit Brahms „Deutschem Requiem“.

Am Ende bleibt der Zuschauer-Aufstand aus. Die einen wollen nicht glauben, dass wirklich schon alles vorbei ist, andere gehen wortlos nach Hause, vielleicht sogar ein wenig erleichtert, dass das zu erwartende Blut-Sperma-Urin-Spektakel ausgeblieben ist. Was das „12-Spartenhaus“ wirklich ist, werden, vielleicht, die weiteren Vorstellungen ergeben. Diese Premiere jedenfalls war keine, die diesen Titel verdient. Insofern haben Vinge, Müller und Reinholdtsen alles richtig gemacht: alle Erwartungen enttäuscht, dem Hype ein Schnippchen geschlagen, und das in nicht einmal vier Stunden. Der Weg ist frei für die nächste Überraschung.

Und weil ich mir damals so viel Mühe gegeben habe: Hier ist noch einmal mein ziemlich aussagekräftiges Video mit Material aus „Die Wildente“:

Die Wildente - Vildanden from Martin Boettcher on Vimeo.