Brit Awards 2011: Jetzt geht's rückwärts

Flower
Es ist die Woche der Musikpreise: Erst wurden am Sonntag in Los Angeles die begehrten Grammys vergeben, gestern das englische Gegenstück, die „Brit Awards“, kurz „Brits“ genannt. Gab es dort, in London, so etwas wie den Gewinner des Abends? Ja, den gab es: Tinie Tempah, der britische Rapper mit nigerianischen Wurzeln, er erhielt gestern zwei Preise, in der Kategorie British Breakthrough Act und British Single. Bekommen hat er diesen letzten Preis für seinen Song „Pass Out“ – genaugenommen eine Art Lobgesang auf das Komatrinken, der Refrain geht in etwa so: Wir besaufen uns, bis wir am Boden liegen.
Die Brits gibt es jetzt seit 34 Jahren, es ist der wohl wichtigste, vor allem aber prestigeträchtigste Preis der britischen Musikindustrie – wer hier ausgezeichnet wird, hat es im Mutterland des Pop geschafft und verkauft im Anschluss daran meist deutlich mehr Platten. Man darf aber auch nicht die Kritik an den Brits verschweigen: Bei der Vergabe der Preise redet die englische Musikbranche ein großes Wort mit, es ist also kein wirklicher Kritiker- oder Publikumspreis, auch wenn dieses Jahr beide Gruppen, die Journalisten und die Fans, mit eingebunden waren.
In zahlreichen Kategorien werden die Preise verteilt und die sind dann auch noch mal in national, also aus Großbritannien, und international getrennt. Diese internationalen Stars sind aber gar nicht so interessant, sie sagen nicht viel über die englische Musiklandschaft aus, trotzdem kurz nennen: Wie schon bei den Grammys wurde gestern auch die Band Arcade Fire mit einem Brit Award bedacht, außerdem der Teenie-Star Justin Bieber, Soul-Sänger Ceelo Green und R’nB-Star Rihanna. Spannender finde ich da schon den Blick auf die englischen Preisträger, um etwas über die englische Musiklandschaft zu erfahren. Preis für das beste britische Album: Mumford & Sons. Für mich zeigt sich hier, dass der Popmusik, zumindest der kommerziellen, die großen Visionen abhanden gekommen sind, auch im Mutterland des Pop – oder gerade da. Im Mainstream herrscht Stillstand oder sogar Rückschritt: Von den gestern Ausgezeichneten gibt es keinen, der von seinem Sound her nicht auch schon vor ein paar Jahren dort auf der Bühne der riesigen 02-Arena hätte stehen können. Mumford & Sons hören sich mit ihrem Album „Sigh No More“ nach ganz früher an. Aber auch Take That, deren Comeback-Album sich 2010 am besten in England verkaufte und die gestern den Preis für die beste Band bekamen, zielen ja auf den Nostalgiemarkt.
Es gab – zumindest für mich – eine große Überraschung. Die hatte aber weniger mit den Preisträgern zu tun, sondern mit der ganzen Veranstaltung: Das war eine wirklich riesig aufgezogene Party, zum ersten Mal in der O2-Arena in London, woran man auch schon den hauptsächlich kommerziellen Charakter der Preise erkennt. Eine wirklich aufwändige Show, jede Menge Live-Auftritte mit einer Masse an Tänzern und Komparsen, die kleine Geschichten erzählten. Nur ein kleines Beispiel: Boris Becker übergab einen Preis. Boris Becker! Was hat der mit Musik zu tun?
Dabei hat die britische Musikindustrie eigentlich gar nichts zu feiern: Im letzten Jahr ist der CD-Verkauf noch einmal runtergegangen, um sieben Prozent, während die Zahl der Download-Verkäufe stagniert. Ein echtes Horrorjahr, hieß es aus der Branche, es gibt eigentlich nichts zu feiern, aber vielleicht war es ja auch so, dass man für einen Abend lang diese deprimierenden Zahlen vergessen wollte. Immerhin: Die bekannten Acts verdienen viel Geld mit Live-Auftritten und kompensieren damit die Verluste aus dem Musikverkauf, aber niemand weiß, wie lange das anhalten wird.
Weiter mit den Preisen Der Rapper und Songschreiber Plan B wurde bei den Brit Awards als bester männlicher Solokünstler ausgezeichnet. Genaugenommen ist auch das Musik von gestern und vorgestern, wirklich gut gemacht, aber alles andere als neu: Soul, ergänzt durch Rap-Einlagen, Musik, wie sie sich seit Amy Winehouse – und neuerdings auch Adele – noch gut verkauft. Dazu passt auch die Karriere von Plan B – 2006 tauchte er mit seinem Debütalbum auf, ein echtes Rap-Album mit Singer-Songwriter-Elementen, von der englischen Presse gelobt, aber noch nichts für die große Karriere. Drei Jahre später dann die Neuerfindung des Plan B: Als Soulsänger, der damit die Spitze der Charts erreichte und jetzt die Karriere als Schauspieler weiterführen möchte. Dass er auch das kann, konnte man gestern sehen: Während seines Songs zog er sich um, man inszenierte seine Verhaftung, einen Prozess, Gefängnisaufenthalt, garniert von Ghetto-Tänzern und brennenden Polizisten. Wie gesagt: Große Show in London.
Und Frauen spielten gar keine Rolle? Doch, spielten sie, auch keine kleine oder untergeordnete: Es gab bemerkenswerte Auftritte von Rihanna in einer Art Unterwäsche-Kostüm und auch von der Soulsängering Adele. Critics Choice, ein Spezialpreis der –überwiegend männlichen – britischen Musikkritik, war zum vierten Mal in Folge eine Frau. Ihr Name ist Jesse J., sie ist 22 Jahre alt und wurde vor wenigen Wochen bereits von der BBC als Newcomerin des Jahres gekürt. Ihr Stil ist der so genannte „urban pop“, Gesang plus R’nB plus Electro-Beats – schwer zu sagen, ob dieser Preis für sie mehr bedeutet als nur eine Momentaufnahme – sie hat immerhin angekündigt, jetzt die Grammys in Angriff zu nehmen und das gefällt der englischen Musikindustrie.
Beste Sängerin fehlt noch, die habe ich mir bis zum Schluss aufbewahrt: Laura Marling hat den Brit Award als beste britische weibliche Solokünstlerin bekommen – das hört sich im Englischen übrigens besser an als im Deutschen: Best British Female Solo Artist. Vielleicht ein bisschen überraschend, zu den Brits hätte eher die ebenfalls nominierte Casting-Band-Sängerin Cheryl Cole gepasst, nicht diese doch sehr nachdenkliche Singer-Songwriterin. Vielleicht der Versuch der englischen Musikindustrie, ihr eigentliches Produkt wieder ernster zu nehmen. Klar ist nämlich: Castingshows, die dort mindestens ebenso eine Rolle spielen wie bei uns, sorgen kurzfristig für Aufsehen. Langfristig aber rauben sie der Musik – und ihren Protagonisten - ihre Aura. Dieser Prozess mag in England länger dauern als bei uns – ich muss noch mal den Begriff Mutterland des Pop nennen - ist dort aber noch ein bisschen gefährlicher.