SXSW-Diary Tag 3: Erleuchtung

Jetzt, nach ca. 20 Konzerten in den letzten drei Tagen, kann ich es ja gestehen: Ich bin eigentlich gar kein Konzertmensch. Ich interessiere mich für Bands und Produzenten und DJs und Alben und Songs, aber nur bedingt für Live-Auftritte. Liegt wohl daran, dass ich so gut wie nie in die anhimmelnde Fan-Pose falle. Am dritten Tag vom „South by Southwest Music“-Festival in Austin aber war ich tatsächlich nicht nur einmal, sondern mindestens drei Mal hin und weg. Schuld waren eine Kirche, Grimes, Nicolas Jaar und vor allem Purity Ring.
Purity Ring sind zu zweit und kommen aus Kanada, aber das ist eigentlich egal. Nicht egal aber ist, was sie für Musik machen und wie sie sie machen: Er hat sich eine Art Lichtorgel gemacht - sobald er auf die einzelnen Leuchten schlägt, erklingt der passende Ton dazu und die Leuchte ändert ihre Farbe, geht an oder aus. Sie singt dazu, die Stimme wird geloopt und zerstückelt und mit Effekten entfremdet. Hört sich vielleicht banal an, ist es aber nicht. Es ist ganz und gar großartig, was man hören und sehen muss, um es richtig zu begreifen. Das Foto, das ich geschossen habe, hilft einem da auch nicht richtig weiter.
Purity Ring traten in einer Kirche auf, der Central Presbyterian Church auf der 8. Straße in Austin. Ein paar hundert Leute passen da rein, Alkohol gibt es natürlich nicht, dafür ganz umsonst eine bestimmte sakrale Stimmung, die sich auch ohne Gott einstellt - jedenfalls mit der richtigen Musik, dem richtigen Licht.
Flower

Purtiy Ring waren nicht die einzigen, die an diesem Abend in der Kirche auftraten. Grimes, ebenfalls aus Kanada, spielte ebenfalls sehr mit ihrer Stimme rum und hatte deshalb während des Singens ziemlich viel zu tun: Mehrere Mikros jonglieren, ständig auf dem Effektgerät und dem Synthie rumhacken, dazu mit der ungewohnten Situation (ja, wir saßen auf den Kirchenbänken und starrten mucksmäuschenstill auf die wenige Meter vor einem stehenden Musiker) klarkommen. Grimes ist ein bisschen verpeilt, fing mittendrin an und ein richtiges Ende gab es auch nicht. Aber sie ist von all den Musikern, die derzeit mit Stimme und Electronica experimentieren und so eine Art Singer-Trackwriter-2.0-Zeugs machen, meiner Ansicht nach am weitesten, was die Verbindung aus Pop, neuen Sounds und Künstlerpersönlichkeit angeht. So gut ich James Blake und Purity Ring und Depthford Goth und Nicolas Jaar auch finde - bei Grimes kommt noch echte Ausstrahlung dazu.
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Apropos Nicolas Jaar: Auch er trat in der Kirche auf. Auch er machte, mit zwei weiteren Menschen, ziemlich abgefahrenes Zeugs mit geloopter und live bearbeiteter Stimme, Gitarre, Saxofon. Songs im herkömmlichen Sinne sind das nicht, das war ein 40 Minuten langes, sich ständig veränderndes Stück aus Stimmfetzen, Soundschnipseln, Effekten und Geräuschen.
Schon mal von Charli XCX gehört? Ich nicht, auch wenn Songs von ihnen es schon in die deutschen Jugendfunk-Stationen geschafft haben. Ihr Auftritt in der Kirche ein wenig schräg, vielleicht am besten zu beschreiben mit „Jennifer Rush trifft Austra“. Die Sängerin (Dauerwelle? Radlerhosen?) mit kräftiger, guter Stimme ausgestattet, verströmte etwas sehr, sehr Prolliges. Aber die Songs gar nicht - und der Drummer mit seinem E-Schlagzeug überzeugte mich so sehr, dass ich gerade selbst auf E-Schlagzeug-Suche bin.
Fiona-Appel-Fans, das weiß man vielleicht, sind ziemlich fanatisch, was „ihre" Sängerin angeht. Und sie werden deshalb nicht verstehen, dass ich Fiona Appels Auftritt in der Central Presbyterian Church hier als letztes und nur kurz abhandle. Muss aber sein: Denn auch wenn sie mehr oder weniger Headliner des Abends war, stellten sich mir bei ihrem Auftritt nur zwei Fragen: Was hat ihr okayer, gitarrenorientierter Alternative-Singer-Songwriter-Sound mit den elektronisches Experimenten des Abends zu tun? Nichts. Und warum singt sie nicht nur, sondern begleitet den Inhalt ihrer Songs mit schauspielerischem Minenspiel? Ich weiß es nicht. Ratlos in Austin: Martin.