Vegard Vinge und Ida Müller: kein Interview

Flower
Es ist vorbei: Vegard Vinge und Ida Müller, Musiker Trond Reinholdtsen und Dutzende von anderen haben die letzte Vorstellung im Nationaltheater Reinickendorf hinter sich gebracht. Es war klar, dass an diesem letzten Abend nicht das gleiche passieren kann wie an den neun Abenden (bzw. Nächten, die Vorstellungen dauern ja bis zu 12 Stunden) zuvor. Aber was genau? Noch nie erlebter Fäkal-Terror? Der Abriss des extra für einen Monat in einer alten Lagerhalle errichteten Theaters in Echtzeit, also während laufender Vorstellung? Vielleicht gar keine Vorstellung, wie es das vor Jahren ja auch schon gab? Oder die komplette Umarmung des Publikums? Nein, es kam dann doch, wie erwartet, ganz unerwartet.
Noch mal kurz zusammengefasst: Vinge und Müller machen Theater nach ihren Regeln. Sie arbeiten sich seit Jahren an Norwegens Nationalheiligtum Ibsen ab. Ida Müllers Bühnenbild, die Kostüme, der Einsatz von elektronisch verfremdeten Stimmen, Sounds und Musik ist einzigartig. Vinge geht an die Grenzen, sein Umgang mit Fäkalien hat gar nichts Fetischartiges, sondern (so kann man das jedenfalls verstehen) ist eine Art von "mehr kann man nicht geben; mehr öffnen, mehr alle privaten Schutzmechanismen runterlassen geht nicht". Das Nationaltheater öffnete am 1. Juli 2017 seine Türen und wurde erst einmal … fast komplett ignoriert: am selben Tag, nur ein paar Kilometer entfernt, wurde nämlich ein Nationalheiligtum der Berliner Theaterszene verabschiedet, Frank Castorf. Mir nach wie vor schleierhaft, auf was für einen komischen Deal sich die Theaterkritiker da mit dem Haus der Berliner Festspiele eingelassen hatten, aber erst die zweite Vorstellung Vinges ein paar Tage später wurde dann als offizielle Premiere wahrgenommen.

Flower
Angekündigt für das Nationaltheater Reinickendorf war ein weiteres Ibsen-Stück, Hedda Gabler. Aber da hatte die Öffentlichkeitsarbeit der Festspiele wohl zu schnell verkündet (und gedruckt): in den vergangenen Wochen, in insgesamt zehn Vorstellungen, wurden Ibsens Baumeister Solness und Shakespeares Hamlet miteinander verbandelt und in Szene gesetzt. Vier Mal war ich dabei, nur einmal bis zum Ende, nämlich bei der letzten Vorstellung. Das lag nicht an meinem plötzlich erwachten Durchhaltewillen, sondern daran, dass es an diesem Abschlussabend nicht wie sonst über zwölf Stunden ging, sondern nur über sechs, an deren Ende, wie wohl auch an den anderen Tagen, alle noch Anwesenden mit einer Schallplatte bedacht wurden: Soundmann Trond Reinholdtsens "Psycho-Hamlet - The Musical", eine in pinkem Vinyl gehaltene Maxisingle mit Ophelias "Ich will gehorchen Arie" und ihrem "Wahnsinns-Lied".

Was gab es noch in diesen sechs Stunden? In Stichworten: schnellen Einlass ins Theater, stundenlange, per Video auf Leinwand übertragene Diskussionen zwischen "Geschäftsführer", "Baumeister", "techn. Leiter", "künstl. Leiter", "Öffentlichkeitsarbeit" und weiteren Figuren (tolle und absurde Dialoge, die ahnen lassen, wie schwer den "Funktionären" im Theaterbetrieb der Umgang mit den Künstlern fällt). Und es gab eine Performance von Vegard Vinge, mit Maske, schwarzem Haar, Wagner-Shirt und, wie so oft, in langen Unterhosen, auf denen an der Seite drei Adidas-Streifen aufgemalt waren. Er malte die Wände und die Schauspieler schwarz, schlug mit der Axt ein paar Löcher in die Wand, ließ uns zwei Mal dabei zusehen, wie er auf den Tisch schiss, danach wurden ihm erst Finger, dann verschiedene Gummie-Penisse in den Hintern gesteckt, am Ende rieb er sich mit seinen Fäkalien ein und saß auf dem Tisch, nackt und im wahrsten Sinne des Wortes leer. Ausgespielt? Erschöpft? Erleichtert? Nach Erleichterung sah es nicht aus, aber die Maske, die als einziges übrig blieb, machte es schwer zu erahnen, was genau ihm durch den Kopf ging. Der Abend, man hätte es ahnen können, war da schon so gut wie vorbei: der Vorhang zur eigentlichen Bühne öffnete sich zwar noch ein paar Mal, um noch einmal einige der verschiedenen Bühnenbilder zu zeigen, doch blieben sie menschenleer: nicht ein Schauspieler zeigte sich, keine Geräusche oder Musiken ertönten. Nur ein Videobild hatte zuvor noch einmal alle Schauspieler in der Küche im Backstagebereich gezeigt. Leere Bühnenbilder? Der Wald: leer. Der Himmel: leer. Die Vulkanlandschaft: leer. So sehen Bühnen eben aus, wenn die Geschichte erzählt ist.

FlowerEs folgte: ein kurzes Konzert von Goshawk (ja, ein Konzert): instrumentaler Rock (Prog Noise nannte deren Musik mal jemand). Und dann … dann wurden die Platten verteilt, die schon bei den Vorstellungen zuvor das Ende signalisierten (Plattencover ist hier auf den Fotos zu sehen). Ob es ein Wiedersehen geben wird? Ich weiß es nicht. Vielleicht haben Vegard Vinge und Ida Müller jetzt wieder einmal auserzählt und brauchen eine längere Pause. Vielleicht trennen sie sich. Vielleicht gehen sie in eine andere Stadt. Vielleicht entscheiden sie sich, als nächstes ganz und gar herkömmliches Theater zu machen. Auch das würde ich mir ansehen. Und ich warte immer noch auf ein Interview mit den beiden. Aber das wird es wohl nie geben. Für den Moment jedenfalls: alles vorbei.