Mein Netz hieß Festnetz

Flower
Ein Selbstversuch: Ich will über die Zukunft schreiben. Das haben vor mir schon andere gemacht. Und auch das, was ich über diese Zukunft zu sagen habe, ist nicht unbedingt neu. Ich erhoffe mir aber - Achtung, Pathos! - nichts weniger als einen Moment der Erleuchtung. Meine eigenen Gedanken, schwarz auf weiß niedergeschrieben, sollen einen Zustand der Ignoranz beenden: Nicht nur wissen, dass alles anders wird. Sondern sich auch wirklich darauf einstellen. Könnte von Vorteil sein. Wanna join me?
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Der kleine Steppke rechts auf dem Foto, das bin ich. Vor über 40 Jahren. Das Telefon, das ich in der Hand halte, ist vielleicht ein „FeTAp 611“, ausgegeben von der Deutschen Bundespost. Nicht, dass ich solche Sachen wüsste, nicht, dass mich das irgendwie interessierte, aber wir leben ja bekanntlich nicht mehr im Jahr 1969, sondern 2012, da müssen auch solche Sachen recherchiert werden. Also habe ich nachgeschaut. Im Netz. Und ich meine jetzt nicht das Festnetz.
Hört sich nostalgisch an? Gut möglich, ich glaube, ich bin ein bisschen wehmütig, seit ich dieses Foto in einer Fotokiste entdeckt habe. Die Älteren werden sich erinnern: Fotokisten, das sind Papp-, Plastik-, Holz- oder Metallboxen, in denen Menschen, die schon länger erwachsen sind, Abzüge von früher aufbewahren, um sie bei Bedarf („Melancholie-Sucht“) rauszukramen. Und damit wäre ich auch schon mittendrin im Thema: Die Welt, wie ich sie kenne, hat sich in den letzten 40 Jahren sehr verändert. Und als wäre es nicht schon schlimm genug, diese Binsenweisheit hier als neue Erkenntnis aufzuschreiben, muss ich hinzufügen: Das wird so weitergehen.
Bleiben wir bei den Binsenweisheiten: Ja, ihr Platten und CDs, die ihr euch in den letzten Jahrzehnten zu tausenden in meiner Musikjournalisten-Wohnung angesammelt habt: Ihr werdet verschwinden. Genauso wie die DVDs und die Bücher und die Video-Spiele (und Fotokisten). Und nicht nur in meiner Wohnung. Sondern überall. In einer Cloud-basierten Welt gibt es für euch keine Daseinsberechtigung mehr, ihr seid, genau wie meine Fotokiste, nur eine Box, ein Behälter, in dem eure Inhalte in meine vier Wände gelangten: Die Musik, die Filme, die geschriebenen Worte. Die neue Box ist das Netz und, nein, ich spreche immer noch nicht vom Festnetz. Sondern von den Programmen und den Apps, die schon bald aus allen Rohren streamen und streamen und streamen werden. Am Tag X, wenn die Welt komplett digital geworden ist. Er wird kommen, ganz bestimmt. Und vielleicht schneller, als man denkt. Oder ist es noch niemandem aufgefallen, wie leer die CD-Abteilungen im Elektronik-Markt mittlerweile sind, abgesehen vielleicht von der Vorweihnachtszeit?
Wenn ihr aber, ihr Zeitungen und Magazine, ihr DVDs und CDs und Schallplatten, geht, dann gehen auch die anderen: Die Briefträger und Paketboten und Fahrradkuriere, die euch so zuverlässig gebracht haben. Die Presswerke und Druckereien, die euch herstellten. Über kurz oder lang wahrscheinlich auch der ganze Rattenschwanz aus Designern und Layoutern und Grafikern und Anzeigenabteilungen.
Die Buchhandlungen werden uns natürlich auch verlassen, die Plattenläden, die Zeitungskioske, die Videotheken und Kulturkaufhäuser, schließlich auch die Kinos. Und - jetzt bin ich an dem Punkt angelangt, an dem es persönlich wird und weh tut - vermutlich auch die Radiomoderatoren und Musikjournalisten. Noch „verbrennen“ Streaming-Dienste Millionen und Abermillionen Dollar und Euro, aber sie tun das, weil sie wissen: Wer bis zum Ende durchhält, wird das ganz große Geschäft machen. Die Art und Weise, wie wir Musik hören werden, wird mit früher genauso viel zu tun haben wie das „FeTAp 611“ mit dem iPhone.
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Und hier schließt sich jetzt der Kreis. Und damit auch dieser Artikel: Der nicht mehr ganz so kleine Steppke hier links, das bin ich auch. Ein neues Foto, aufgenommen im April 2012. Beim Auflegen digital eingekaufter, in digitaler Form abgespeicherter und digital kontrollierter Musik. Der „digital DJ“, fotografiert mit dem Smartphone, digital reproduziert und digital verbreitet. Es wird nicht noch einmal vierzig Jahre brauchen, um auch bei diesem Foto in Nostalgie auszubrechen. Ganz sicher nicht.