Vegard Vinge: Seltsame Mauscheleien mit dem Nationaltheater Reinickendorf

Flower
Man muss ja nicht gleich von "Skandal" sprechen, aber eine Gemeinheit ist es schon, wie sie an diesem Wochenende mit Vegard Vinge umgegangen sind! Vegard Vinge, das ist der Theatermacher, der gemeinsam mit seiner Bühnenbildnerin Ida Müller mit seinen Ibsen-Inszenierungen, mit seinem Extremtheater für Aufsehen, Irritation, Begeisterung, Ablehnung und Schlagzeilen gesorgt hat. Vegard Vinge und Ida Müller sind radikale Theatermacher. Ihre mühevoll aus Pappe und Farbe gestalteten Bühnenbilder und die Masken ihrer Schauspieler verbreiten eine seltsam morbide, entfremdete Stimmung. Vinge/Müller-Stücke sind heftig, Gewalt spielt eine große Rolle, Kunstblut wird großzügig ausgeschüttet, wer auf lineare Handlung angewiesen ist, könnte verzweifeln. Und es kommt gar nicht mal so selten vor, dass ihre Inszenierungen acht oder zehn oder auch zwölf Stunden dauern. 2012 schafften es Vinge und Müller mit ihrer Inszenierung von Ibsens John Gabriel Borkmann zum Berliner Theatertreffen.

Vier Jahre lang hatte Vegard Vinge nichts von sich hören lassen, vier lange Jahre, in denen immer mal wieder jemand sehnsüchtig fragte, wann denn endlich Neues vom radikalen Norweger zu sehen sein würde. Nun, jetzt, am Samstag, dem 1. Juli 2017, war es so weit: Vinge/Müller eröffneten unter den Fittichen des Haus der Berliner Festspiele ihr "Nationaltheater Reinickendorf". "Extremtheater"! "Theatertreffen-Teilnehmer"! "Ausnahme-Schauspiel"! Bei solchen Schlagworten, könnte man meinen, würden die Feuilletons, die einschlägigen Theaterkritiker Schlange stehen, um über die erste Vorstellung zu berichten. Jetzt haben wir Montag, den 3. Juli, und was soll ich sagen? Es ist so gut wie kein Wort über das Nationaltheater und diese erste Vorstellung gefallen. Nur bei Nachtkritik haben sie sich dazu durchgerungen, die ganze Veranstaltung nicht komplett zu ignorieren wie die anderen - dort hat man sich an einem Kompromiss versucht. Ansonsten: nur Zurückhaltung. Aber warum? Dazu ein paar Überlegungen, die meiner Ansicht nach den Theaterjournalismus in keinem guten Licht stehen lassen.

Der 1. Juli stand ja ganz im Zeichen der Castorf-Abschiedsfeier an der Berliner Volksbühne. Ein Umstand, der die Berliner Festspiele als Auftraggeber von Vinge/Müller offenbar in schwerste Gewissenskonflikte gebracht hat: Vinge, der einen Teil seiner früheren Inszenierungen im Berliner Prater als Teil der Volksbühne umgesetzt hat, mit einer Art Gegenveranstaltung zu den Castorf-Festspielen? Wäre das nicht vielleicht eine Kampfansage? Oder zumindest ein Affront? Wie sollen das denn die Kollegen verstehen? Das geht doch nicht! Aber warum soll das eigentlich nicht gehen, fragt man sich als Großstadtbewohner und Journalist, verträgt eine Metropole nicht mehrere Ereignisse? Und hätten die verständlichen, aber auch ganz schön dick aufgetragenen Jubelarien auf Frank Castorf nicht sogar eine Art Gegengewicht verdient, frei nach dem Motto: interessantes Theater wird es auch in Nach-Castorf-Zeiten, in Zeiten einer Dercon-Volksbühne geben, nur eben an anderer Stelle? Die Berliner Festspiele hätten ihren Vinge-Coup groß feiern können, vielleicht hätte es sogar ein bisschen Krach gegeben, was dem Theaterbetrieb bekanntlich meistens gut tut. Ärger aber, egal welcher Art, wollten die Berliner Festspiele wohl nicht. Sie konnten aber offenbar auch ihren Regisseur Vinge nicht überreden, diese erste Vorstellung am 1. Juli abzusagen. Ich stelle mir das so vor, dass Vinge, der als Künstler (zum Glück) kein einfacher Mensch ist, entweder hämisch gelacht hat, als ihm vorgeschlagen wurde, wegen Castorf seine Premiere zu verschieben. Oder dass er ziemlich wütend reagierte. Oder einfach gar nicht darauf einging.

Was aber macht man als "seriöses" Haus angesichts dieser ach so komplizierten Situation? Hier der "schwierige" Regisseur, dort die "heilige" Castorf-Abschiedsfeier? Ganz einfach: man organisiert eine Art Schweigegelübde! Kurzerhand wird nicht der 1., sondern der 6. Juli zur "offiziellen Premiere" erklärt - und Presseberichterstattung, so die Idee und Forderung, soll dann bitte auch erst ab dem 6. Juli erfolgen. Ich weiß das, weil ich von der Kommunikationsabteilung der Berliner Festspiele eine Mail zugeschickt bekam. Dort hatte man nämlich spitzgekriegt, dass ich mir einfach selbst eine Eintrittskarte gekauft hatte und vorhatte, darüber zu schreiben oder zu erzählen. Ein Journalist bei der Premiere, die keine Premiere sein darf? Nicht gut! In der Mail heißt es: "Wir bitten alle, die schon am 1. Juli kommen, nicht vor dem 6. Juli abends über die Vorstellung zu schreiben, zu berichten, zu publizieren. Wenn Sie das also vorhätten, bitten wir Sie hiermit, alles erst ab 6. Juli abends zu veröffentlichen. Wir versuchen in einer etwas kniffeligen Situation gleiche Bedingungen für alle Medienvertreter zu schaffen UND BISHER SIND ALLE BESTEN WILLENS SICH DARAN ZU HALTEN." (Hervorhebung von mir) Eine Art Sperrfrist für öffentliche Vorstellungen! Das ist neu, das ist originell, das ist aber auch ganz schön frech. Und nicht nur das. Ich empfinde das, um zum Anfang zurückzukommen, als echte Gemeinheit dem Regisseur gegenüber, dem man hier zu verstehen gibt, dass er gefälligst zurückzustehen habe.

Extremes Theater von Vegard Vinge und Ida Müller from Martin Boettcher on Vimeo.



Ich verstehe aber auch nicht, warum Journalistenkollegen bei so einem seltsamen Spiel mitmachen. Es gilt meiner Ansicht nach immer noch das oft George Orwell zugesprochene "Journalismus heißt, etwas zu drucken, von dem jemand will, dass es nicht gedruckt wird. Alles andere ist Public Relations." In diesem Sinne hätte meine Kollegen zu Dutzenden zu Vinge strömen und erst recht über ihn und seine erste Vorstellung seit Jahren berichten müssen. Haben sie aber nicht. Aber gab es denn wirklich etwas zu verschweigen? Was genau ist denn nun passiert am 1. Juli? Viel! Das Nationaltheater Reinickendorf findet sich auf einem großen Industriegelände, auf dem unter anderem der Discounter Aldi sein Großlager betreibt. Gelbe Klebestreifen weisen den Weg, sie sind aus Sicherheitsgründen angebracht, offenbar, damit einen die Aldi-Laster nicht überfahren. Nur sind die an diesem Samstagabend gar nicht mehr unterwegs. Mit vielleicht einer halben Stunde Verspätung (da ist man von Vinge ja ganz andere Sachen gewohnt) öffnet die Bühne ihre Tür. Rund hundert Menschen sind gekommen, müssen zwei enge Treppen hoch ins Foyer. Dort erwartet einen Neues und doch Vertrautes: Ida Müller hat wieder ganze Arbeit geleistet, das ganze Theater ist in ihrem typischen Stil sehr aufwändig gemalt, ein Extra-Raum etwa präsentiert dutzende, hunderte nachgemalte Panini-Sammelbilder von Fußballern aus den 80ern. Und eine "Kotmaschine" flößt Furcht ein, genau wie die erste der vielen verstörenden Gestalten, die einen durch den Abend begleiten werden: ein Mann mit weißer Maske, seltsamer Stimme, furchteinflößenden Gesten. Er leitet eine Art Tombola, die Sitzplätze werden - sehr geduldig, wir sind bei einer Vinge-Veranstaltung - verlost.

Dann in den eigentlichen Theatersaal, an den Wänden lassen verfremdete Kinoplakate von "Der Pate" bis "Pulp Fiction" Fäkalien, Blut und Sperma erwarten - und in den nächsten knapp 12 Stunden spielen all diese Dinge auch eine Rolle, aber natürlich auch noch viel, viel mehr. Vor allem am Anfang ist schwer zu durchschauen, was wir eigentlich sehen: Vieles findet nur als Videoprojektion auf einer großen Leinwand statt, Szenen aus Hamlet dürften das gewesen sein (1. Überraschung), dann, als es auch auf der Bühne und kleinen, als Zimmern gestalteten Nebenbühnen losgeht, Szenen aus Ibsens "Baumeister Solness" (2. Überraschung, eigentlich war mal Ibsens "Hedda Gabler" angekündigt). Vinge selbst tritt gar nicht so oft wie sonst in Erscheinung, auch ist seine Stimme nicht mehr so verfremdet wie früher, man kann ihn gut verstehen - und er macht den Eindruck, als wäre er gekränkt. Oder wütend. Wütend über die Forderung, seine Premiere zu verschieben (eine ziemlich lustige Gesprächszene zwischen einem "Geschäftsfürer" (sic!) und einer als "Produzent" bezeichneten Frau über "Änderungen des Spielplans" legt das nah. "Ich habe mich doch klar und laut per SMS ausgedrückt", heißt es da). "Baumeister Solness" läuft an diesem Abend ja zeitgleich auch in der Volksbühne als letztes Castorf-Stück - und Vinges Kommentare zu den "Kameraden in der Volksbühne", die da ein letztes Gefecht schlagen und sich vom Dach der Volksbühne stürzen, lässt ahnen, wie aufgeblasen ihm das Pathos und die sentimentale Sichtweise dort vorkommen mögen.

So oder so, es dauert (wie eigentlich immer bei Vinge) ein bisschen, bevor der Abend, bevor die Nacht, bevor die Szenen einen Sinn ergeben. Baumeister Solness ist ein schlimmer Schinder, er schleppt seinen Urinbeutel mit sich herum, er vergeht sich an Hilde. Solness' Frau Aline zetert unerträglich laut und lange. Ragnar läuft in der Gegend herum, seine Verlobte Kaja wird von Solness belästigt. Solness mordet, es fließen wieder einmal große Mengen an Kunstblut, wenig später singt Prinz Hamlet, singt Ophelia. Eine spermaartige Flüssigkeit wird als "artistic juice" in Einweckgläser gefüllt, die Bühnenarbeiter, die eigentlich nur für die reibungslosen Umbauten zuständig sind ("Die besten Techniker der Welt") finden sich auf einmal in der Inszenierung wieder und werden genötigt, ihre Fitness unter Beweis zu stellen. Kniebeugen machen sie mit, Liegestütz verweigern sie mit rebellischer Mittelfingergeste in Richtung Regie …
Buehne_NT_Reinickendorf

Solness, Hamlet, Bühnentechniker … in der Nacherzählung, das gebe ich zu, ergibt das alles wenig Sinn, im Theater, das sich Stunde um Stunde nach vorne kämpfte, fragte man sich aber schließlich nicht mehr nach diesem Sinn, sondern ließ die Szenen auf sich einwirken, einprasseln. Es ist ja eh ein seltsam träumerischer, benebelter Zustand, in dem man sich da befindet: Um einen herum schlafen die Menschen, wachen angesichts unvermittelter Schussgeräusche und Lichtblitze wieder auf. Freude und Unbehagen kommen gleichzeitig auf, wenn zwischendurch die Protagonisten auf der Bühne darüber sinnieren, warum im Zuschauerraum so viel Unruhe herrscht, warum Leute kommen und gehen, ob sie ihre Jacken mitnehmen (also nicht mehr wiederkommen). Vor der Tür im Hof sorgt eine mobile Burgerbraterei für Essen und Trinken, drinnen verteilt eine dieser seltsamen Vinge/Müller-Gestalten ebenfalls Essbares. Ein paar Gedanken, die mir während der Nacht durch den Kopf gehen: "Immer wieder diese Vater-Geschichten!" - "Ab 18, klar!" - "Hoffentlich ist das Nutella!" - "Wo ist eigentlich Ida Müller?" - "Warum Hamlet?" - "Ist Thomas Oberender noch da?"

Bis morgens um sechs geht das Ganze, die Zuschauer, die bis zum Ende durchgehalten haben, bekommen ein selbstgestaltetes Dankeschön. Ich bin nicht dabei, müde und ausgelaugt habe ich nur bis drei durchgehalten. Umso trauriger, dass ich jetzt nirgendwo detailliert nachlesen kann, was ich verpasst habe. Oder überhaupt nachlesen kann, wie andere diese erste Aufführung im "Nationaltheater Reinickendorf" erlebt haben - die unterschiedlichen Interpretationen, die vielen verschiedenen Beobachtungen, die im Laufe einer solchen Nacht zusammenkommen, sind für mich Teil einer Vinge-Inszenierung. Aber: Am Donnerstag steht die zweite Aufführung an. Die "offizielle Premiere". Und dann werden wir mehr über das Extremtheater von Vegard Vinge, Ida Müller und ihrem Soundmenschen Trond Reinholdtsen lesen können. Ob sich das Warten lohnt?