Das Radio-Dilemma: Von falschen und richtigen Hörern

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Früher - also so richtig früher, sagen wir mal: vor 1850 - war das mit dem Gegensatz zwischen Jung und Alt kein großes Problem. Damals lebte man nicht besonders lange, im Durchschnitt vielleicht 40 Jahre. Für die Macher von Fernseh- und Radioprogrammen die ideale Zeit, wären sie doch damals niemals einem Problem begegnet, mit dem sie heute offenbar schwer zu kämpfen haben: Dem falschen Hörer! So viel schon mal vorweg: Der falsche Hörer ist fast immer der zu alte Hörer!
In England, genauer gesagt: beim BBC-Sender „Radio 1“, rappelt es gerade. 2009 wurde von der Leitung der britischen Rundfunkanstalt festgelegt, dass „Radio 1“, das BBC-Radio-Flaggschiff, jünger zu werden habe. Jetzt, drei Jahre später, stellt man fest, dass das durchschnittliche Alter der Hörer von 31 auf 32 gestiegen ist. Um „Radio 1“ wieder attraktiver für die Zielgruppe (15-29 Jahre) zu machen, müssen einige der älteren Moderatoren gehen, zum Beispiel der prominente Morningshow-Moderator Chris Moyle. Der 39-Jährige wird ersetzt durch den 27-jährigen Shooting-Star Nick Grimshaw.
England ist weit weg, kann man sagen, wen interessiert’s? Mich, ehrlich gesagt. Denn die Vorstellung vom „richtigen“ und vom „falschen“, sprich zu alten oder nicht altersgerechten Hörer gibt es bei uns natürlich auch. Und sie ist, aus meiner Sicht als Hörer, dumm und ärgerlich, vor allem, wenn wir über die öffentlich-rechtlichen Sender sprechen (die privaten sind privat und dürfen innerhalb der gesetzlichen Bestimmungen meinetwegen machen, was sie wollen, auch dumme Sachen).
Aber werden wir doch mal konkret: Ich habe lange für „Fritz“, das Jugendradio des RBB, gearbeitet, als Reporter, Moderator und Redakteur. Als ich als Praktikant anfing, war ich 26, als ich 2008 aufhörte, fast 41. Die Trennung verlief fair, mir wurde lange vorher Bescheid gesagt, die Begründung, trotz Manager-Sprech, akzeptabel: Es sei „keine Entscheidung gegen mich und gegen mein Alter“, sondern eine „für neue, jüngere Kollegen“, denen man auch eine Chance geben müsse. So ähnlich habe ich das während meiner Zeit bei „Fritz“ auch immer gesehen: Der Platz ist natürlich begrenzt, will man die im Lauf der Jahre neu dazu kommenden Kollegen nicht dauerhaft frustrieren, muss man ihnen auch die Möglichkeit geben, die begehrten Plätze als Moderatoren und Reporter zu erobern.
Einige Dinge hinterließen bei mir trotzdem einen faden Beigeschmack. Zum Beispiel das hier: Oben, also auf den Plätzen der Entscheider, schien die Erkenntnis, dass Bewegung notwendig ist, keine große Rolle zu spielen - dort blieb man einfach sitzen und schien das zu glauben, was natürlich auch die anderen, die es „erwischte“, von sich glaubten: Ich mag zwar älter (nämlich 40 oder 50 oder so) sein, aber ich weiß natürlich trotzdem noch, was „der junge Hörer“ hören will. Ich will mich selbst dabei übrigens gar nicht ausnehmen: Als ich gehen musste, moderierte ich bei „Fritz“ einmal wöchentlich eine Technosendung und bin bis heute der Meinung, dass man mir a) mein Alter nicht anhörte und b) die Sendung davon lebte, dass dort jemand komplett seine Leidenschaft, nämlich die für elektronische Clubmusik, auslebte und zwar weit weg von Großraumdisco und Kirmestechno, aber auch weit weg von Quotendruck - Einschaltquoten für die Nachtzeit werden beim Radio nicht erhoben.
Tagsüber sah und sieht das natürlich ganz anders aus, aber in der ganzen Zeit bei „Fritz“ war nicht nur die Einschaltquote wichtig, sondern auch immer wieder das Alter des „Durchschnittshörers“ (den es, auch wenn Control Freaks in der Leitungsebene das nicht wahrhaben wollen, nicht gibt) ein Thema. „Fritz“ peilt eine bestimmte Zielgruppe an, manchmal war auch von einer „Kernzielgruppe“ die Rede: Menschen zwischen 15-35 bzw. 17-27 oder so. Junge Menschen eben. Mal ergab die regelmäßig wiederkehrende neue Media-Analyse, die so genannte MA, dass die Hörer älter geworden waren, seltener, dass die Hörerschaft jünger wurde. Mitunter wurde im Anschluss an die MA dann die Devise ausgegeben: „Das Programm muss jünger werden!“ Die Folge: keine älteren Hörer mehr „On Air“, in Gewinnspielen nicht, aber auch nicht in Talkrunden wie der Sendung „Blue Moon“ und andern „Call-In-Aktionen“.
Was dahinter steckt, dürfte jedem, der den RBB kennt, klar sein: Der Rundfunk Berlin-Brandenburg leistete sich bis zur Einstellung von „Radio Multikulti“ sieben Hörfunk-Programme, die sich natürlich irgendwie voneinander unterscheiden müssen. Und das tun sie nicht nur, aber hauptsächlich in ihrer angepeilten (Alters-)Zielgruppe: „Fritz“ für Jugendliche. Radioeins „nur für Erwachsene“. „Antenne Brandenburg“ und „Radio Berlin 88,8“ für die älteren in Brandenburg bzw. in Berlin.
Aus Sicht der einzelnen Sender natürlich verständlich: Man braucht ein „Alleinstellungsmerkmal“, um zu rechtfertigen, dass man weiterhin sendet. Wird ein Jugendsender zu alt (ich weiß nicht, wie es aktuell ist, aber eine Zeit lang waren „Fritz“ und „radioeins“ ziemlich nah beieinander, 32 und 35 Jahre oder so), läuft er natürlich Gefahr, eingestellt zu werden, vor allem in einer Rundfunkanstalt, die sowieso notorisch klamm ist.
Aus Sicht der Hörer (und auch der gesamten Rundfunkanstalt) erscheint mir das aber irgendwie nicht sonderlich schlau: Als Ganzes müsste sich der RBB eigentlich über jeden Hörer freuen, der nicht zu den Privaten hält. Und als Hörer suche ich mir doch den Sender aus, der mir am besten gefällt - es ist ja ohnehin meist eine Auswahl unter dem Titel „Kleineres Übel“, kaum jemand ist mit „seinem“ Sender zu 100% glücklich. Um es noch mal ganz klar zu schreiben: Ja, es gibt ihn, den 50-jährigen Techno- oder Hip-Hop-Fan, in Berlin sowieso, wie man hier ganz gut nachlesen kann. Es gibt auch den 20-jährigen Klassikfan, den 25-jährigen Studenten, der Schlager hört, die Familie, in der vom Enkel bis zur Oma harter Metal bevorzugt wird. Menschen hören trotz oder wegen bestimmter Moderatoren einen Sender, andere lieben es, sich mächtig über alles vom kleinsten Jingle bis zur längsten Sendung aufzuregen.
Bei all dem stellt sich mir die Frage: Welche Rolle spielen sie eigentlich, die öffentlich-rechtlichen Sender? Sind sie lediglich dazu da, einzulullen, zu unterhalten, sichtbare und unsichtbare Grenzen in der Gesellschaft zu verstärken? Oder sind sie vielleicht auch dazu da, uns jeden Tag ein bisschen schlauer, besser, sympathischer, gewandter, gebildeter zu machen, nur ein klitzekleines Bisschen? Uns aus unseren selbstgewählten Nischen und Ghettos herauszuholen, indem sie uns - muss ja wirklich nur ein Wenig sein - von anderen Welten und anderen Wirklichkeiten erzählen? Das hoffe ich, der nach wie vor mit den Öffentlich-rechtlichen sein Geld verdient, sehr!
Dass Menschen mit einem bestimmten Alter bestimmte Vorlieben haben, mag zum Teil stimmen. Zum Teil ist es aber auch nur ein Vorurteil, ein Klischee, das nicht stimmt. „Richtige“ und „falsche“ Hörer gibt es nicht. Und hier noch was zum Nachdenken: Hören zwei Menschen Radio. Der eine ist 3, der andere 53. Durchschnittsalter: 28. Aber was ist jetzt die „richtige“ Musik für die beiden? Schlager, Techno oder Klassik? Und wie alt müsste ihr idealer Moderator sein? Auch 28?