Post-Dubstep trifft Neo-Kraut

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Man kann nicht wirklich sagen, dass Berlin mit Musik unterversorgt wäre: An geschätzten 365 Tagen im Jahr treten Bands und Musiker auf, bekannte und unbekannte, ordinäre und abgedrehte, gute und schlechte. Ein riesiges, nicht endendes Festival, wenn man so will, so vielschichtig wie unübersichtlich. Für den CTM, den "club transmediale", der sich selbst als "Berlins schönstes Popfestival" sieht und der parallel zur Transmediale stattfindet, heißt das: Man muss sich auf eine ganz bestimmte Art von Musik konzentrieren, selektiv und stilsicher.
Das tut der CTM seit 12 Jahren, in dieser Zeit ist man zu Deutschlands wichtigstem Treffpunkt für elektronische und experimentelle Musik geworden. Eine Woche lang, vom 31. Januar bis 6. Februar, widmet man sich auch diesmal einer musikalischen und audiovisuellen Szene, die schwer zu durchschauen ist. Eine Mischung aus Partys und Laboratorien, Symposien und Ausstellung, Installationen und Konzerte steht auf dem Programm, es treffen "minimalistische Synthesizer-Drones" auf "audio-visuelle Wahrnehmungsexperimente", "Neoklassik-Elektronika, Drag, Witch House, Neo- Kraut und -Psychedelik" auf die "neuesten Clubbastarde des Post-Dubstep-Universums".
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Hinter all diesen Schubladen, die der "club transmediale" hier auf und wieder zu macht, stehen Musiker von heute, morgen - und auch von gestern: Eröffnen wird Morton Subotnick, Pionier der elektronischen Musik aus den USA. Der mittlerweile 77-Jährige entwickelte in den 60er Jahren den ersten analogen Synthesizer, im HAU wird er gemeinsam mit dem Videokünstler Lillevan und der koreanischen Pianistin SooJin Anjou eine Linie von der Vergangenheit bis in die Gegenwart der elektronischen Musik ziehen - oder das zumindest versuchen. Mit seinen elektronischen Geräten und dem Computer bearbeitet er den Klang des Klaviers, er setzt Tänzer ein, die durch ihre Bewegungen und ihr Verhalten auf der Bühne Töne erzeugen. Das reine Konzert, so die Botschaft, wird immer mehr zu einem Miteinander aus Musik und Medienperformance, zu einem audiovisuellen Spektakel.
Es geht also um die Art und Weise, wie Musik im so wichtig geworden Konzertrahmen funktioniert, passend zum Oberthema dieses 12. "club transmediale", das etwas kryptisch "#LIVE!?" lautet. „Live is live“ singt der Witzbold, aber die Schreibweise signalisiert: "Live", das kann im Jahr 2011 vieles bedeuten. Playbacks, Maschinen, vorgefertigte Sounds, Internetstreams, sie alle können live gespielt werden und zum Erlebnis beitragen, ohne dass der Purist sie noch als "Live" bezeichnen würde. Aber Puristen sind beim experimentierfreudigen CTM ohnehin fehl am Platz.
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Besonders gut zu sehen und zu hören sein dürfte das bei der Hyperdub-Clubnacht im Berghain (4.2.). Das englische Vorzeige-Plattenlabel Hyperdub widmet sich der basslastigen Musik, vor allem dem in den letzten Jahren aufgestiegenen Dubstep und anderen verwandten Richtungen von Grime, der englischen Rap-Variante, bis hin zum so genannten UK Funky. Label-Gründer Kode9 präsentiert sich selbst, dazu eine ganze Reihe seiner Künstler, darunter auch die Dubstep-Supergruppe Darkstar.
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Ganz anders, aber auch zugkräftig, das Line-up der Clubnacht in der Maria, die ebenfalls am Freitag stattfindet: Mit dem englischen Soundtüftler Gold Panda, dem Kölner Electronic-Trio MIT und dem schwedischen Techno-Musiker Axel Willner alias The Field hat der "club transmediale" hier drei Projekte zusammengebracht, die zu den bekannteren gehören.
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Auch zu den experimentellen? Schwer festzulegen, was das im Jahr 2011 überhaupt ist. "Man hört es nicht unbedingt im Ergebnis", sagen die club-transmediale-Organisatoren, es geht um eine Haltung: Die Musiker lassen sich auf ergebnisoffene Prozesse ein, überschreiten die Grenzen ihrer Geräte und Instrumente, erreichen ein "Dazwischen". Experimentell muss nicht anstrengend sein, kann es aber. Und darüber steht die Frage für den Musiker: Was macht das mit mir, was macht das mit meinem Publikum?
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Eine Frage, die sich das Berliner Duo Modeselektor eigentlich nicht mehr stellen muss: Auftritte von Modeselektor münden meist in kollektivem Ausrasten. Unter dem Titel Modeselektion (5.2.) treten sie gemeinsam mit musikalisch verwandten Künstlern wie dem englischen DJ Ben UFO auf und lassen das ganze vom Videokollektiv Pfadfinderei begleiten.
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Ein paar Tage zuvor, nämlich am Eröffnungsabend, trifft im Festsaal Kreuzberg die Club- auf die Rockmusik. Die Sleigh Bells aus New York habe sich dem Noise-Pop verschrieben und lassen zu Hip-Hop-Beats und kreischenden Metal-Riffs sanften Gesang erklingen. Und noch ein Tipp: Was sich in der so genannten "Cine Chamber", die im HAU installiert wird, abspielt, lässt sich nur erahnen: Die Kammer ist von etlichen Projektionswänden umgeben, mit 8.8.2 Mehrkanal-Sound ausgestattet, hat einen vibrierenden Boden und lässt sich wie ein Audiovisuelles Instrument spielen.
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Eigentlich müsste 2011 ein gutes Jahr für den CTM werden. Das hängt mit dem Zustand der Mainstream-Musik zusammen, die für so ein Festival eigentlich gar keine Rolle spielen dürfte: Der kommerziellen Popmusik sind die Ideen ausgegangen, dort geht es derzeit so langweilig zu wie schon lange nicht mehr. Keine neuen großen Trends, keine Überraschungen, die erfolgreichen Musiker pflegten den Sound längst vergangener Jahre oder sogar Jahrzehnte. Abseits davon, in den vom Mainstream weitgehend abgekoppelten Independent-Sparten, ist zwar auch kein großer einheitlicher Hype zu erkennen, aber die experimentierfreudigen Musiker scheinen sich rasant vermehrt zu haben. Die Stile vermischen sich weiter, verschiedene Szenen verbinden sich, man beeinflusst sich gegenseitig.
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Auch der CTM selbst befindet sich in Bewegung und hat neue Partner-Clubs gesucht und gefunden. Die meisten der Veranstaltungen finden in Kreuzberg statt, im HAU und rund um's Kottbusser Tor, im Festsaal Kreuzberg, im West Germany, im Monarch und der Paloma Bar. Dazu eine Ausstellung im Kunstquartier Bethanien, die Clubnächte im Berghain und der Maria und eine kammermusikalische Konzertreihe im .HBC in Mitte.
Ein Festival, das gleichzeitig ein Statement ist: Für eine experimentierfreudige Musikkultur, die sich weder von Kommerz noch Routine bestimmen lassen will. Auch in Berlin keine Selbstverständlichkeit, selbst wenn hier rund um die Uhr Festivalstimmung herrscht.

Das ganze Programm gibt es unter www.clubtransmediale.de. Dieser Artikel ist in etwas abgewandelter Form im Tagesspiegel vom 30. Januar 2011 erschienen.