Pervers gutes oder einfach nur perverses Theater?

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Wenn sich die Bild-Zeitung mit Theater beschäftigt, dann kann man sich ziemlich sicher sein, dass das Thema in eine der folgenden Kategorien passt. Erstens: Einem der Schauspieler ist irgendwas Schlimmes passiert. Zweitens: Es hat gebrannt. Drittens: Es hat einen „Skandal“ gegeben. Gebrannt hat es nicht im Prater der Berliner Volksbühne. Den Schauspielern ist auch nichts wirklich Schlimmes passiert. Bleibt also nur der „Skandal“, der sich für die Bild unter der Überschrift „Das perverseste Theater-Stück Berlins“ zusammenfassen lässt.
Was ist geschehen? Die Berliner Volksbühne hat ihre Spielstätte im Prater wiedereröffnet und zwar mit einem Stück des Regie-Duos Vegard Vinge und Ida Müller. Die beiden Ibsen-Experten haben sich das vorletzte Stück des Norwegers vorgenommen, John Gabriel Borkman, nachdem sie vor ein paar Monaten in einer halbwegs untergegangenen, aber grandiosen Inszenierung auch schon Ibsens „Wildente“ im Prater aufführten. Ob die beiden Kritiker der Bild wirklich bei der Premiere anwesend waren, kann ich nicht nachprüfen. Die Richtung ihrer Kritik und die krassen inhaltlichen Fehler, die in ihrem Text auftauchen, lassen eigentlich nur drei Schlüsse zu: Sie waren nicht da. Oder sie haben von Theater keine Ahnung. Oder sie waren nicht da und haben von Theater keine Ahnung.
Der Reihe nach: Vegard Vinge und Ida Müller sind ziemlich radikale Theatermacher. Ihre ziemlich mühevoll aus Pappe und Farbe gestalteten Bühnenbilder und die Masken ihrer Schauspieler verbreiten eine seltsam morbide, entfremdete Stimmung. Venge/Müller-Stücke sind heftig, Gewalt spielt eine große Rolle, Kunstblut wird großzügig ausgeschüttet, wer auf lineare Handlung angewiesen ist, könnte verzweifeln. Und es kommt gar nicht mal so selten vor, dass ihre Inszenierungen acht oder zehn oder auch zwölf Stunden dauern. Die Premiere von John Gabriel Borkman am Prater etwa soll von 20 Uhr bis ca. 7 Uhr stattgefunden haben, so genau weiß ich es nicht, weil ich nach sechseinhalb Stunden das Haus verlassen habe. Nicht, weil das Stück schlecht oder unerträglich gewesen ist, sondern weil ich morgens um sieben schon wieder aufstehen musste.
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Die Bild-Zeitung hat mit solchen Feinheiten des Theaterlebens nicht viel am Hut, ihr geht es um den Skandal und der ist schnell gezimmert: Auf der Bühne pinkelt sich der Regisseur in den Mund, dann bringt er Menschen um, es folgt auch noch eine Massenvergewaltigung und, Achtung!, das alles von unseren Steuergeldern! Was ganz interessant ist, wenn man die anderen Kritiken zu diesem Stück liest: Sowohl bei Nachtkritik als auch in der Berliner Zeitung und selbst in der Berliner Morgenpost, die auch zum Axel-Springer-Verlag gehört, ist man sich einig: Das ist ein radikales Stück, man muss die Sich-selbst-in-den-Mund-pinkeln-Einlage nicht gut finden, man kann angesichts der langen Dauer genervt sein, aber unter dem Strich bleibt es aufregend, explosiv, genial. Ulrich Seidler von der Berliner Zeitung fasst das so zusammen (und schreibt mir dabei ziemlich aus der Seele): „Ich habe schon einiges erlebt, aber noch nicht so etwas zugleich Wildes, zu Tränen Rührendes, Nervtötendes, Schockierendes, Fantasievolles, Schmerzendes, Langweilendes, Ekel- und Besorgniserregendes. Kleinlaut füge ich hinzu: Einmal reicht mir dann aber vorerst auch.“
Was aber macht die Bild? Konstruiert den Skandal, der keiner war. Behauptet, die Zuschauer hätten im Zehn-Minuten-Takt das Theater verlassen, dabei war klar: Die meisten gehen kurz raus, holen sich Bier, kommen wieder rein. Dann offenbart der Bild-Artikel seine komplette Ahnungslosigkeit: „John Gabriel Borkman (gespielt von Regisseur Vegard Vinge) malt mit einem langen Pinsel, der in seinem Hintern steckt, ein Bild.“ Nein, das tut John Gabriel Borkman nicht. John Gabriel Borkman wird nämlich gar nicht von Regisseur Vegard Vinge gespielt, Vinge spielt sich selbst. Dass er versucht hat, mit dem Pinsel im Hintern ein Bild zu malen, ist allerdings wahr, das Bild steht mittlerweile bei mir in der Wohnung und macht sich ganz gut – er hat es danach nämlich ans Publikum gegeben. Aber dementsprechend ist es dann auch nicht, wie von Bild behauptet, „der Vater“, der sich seine Schamhaare abrasiert und seiner Frau auf den mit Schlamm überschütteten Kopf zu kleben, sondern ebenfalls Vinge.
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Und noch was: Was daran so skandalös sein soll, auf der Bühne eine Vergewaltigung zu inszenieren, erschließt sich mir überhaupt nicht. Ich habe selten oder noch nie so intensiv die ganzen furchtbaren Begleiterscheinungen des Krieges gesehen wir in dieser Szene, die mit einem Soldatenangriff begann und mit der Vergewaltigung endete. Zum Schluss ihres Artikels dann natürlich noch der obligatorische Hinweis der Bild, dass wir alle das Stück mittragen, weil die Volksbühne ja 15 Millionen „Fehlbedarfsfinanzierung“ bekäme.
Was mich zu dem Schluss veranlasst, das die von der Bild-Zeitung gar nicht da waren: Mit keinem Wort beschreiben sie den Versuch, dem Regisseur einen riesigen Dildo einzuführen! Das war schließlich die krasseste Szene der Aufführung. Dafür schreiben sie lahm von einem „vergrößerten Penis“ auf einer riesigen Leinwand. Die „riesige“ Leinwand gab es nicht. Und vergrößert war der Penis auch nicht, er war ganz normal, fast schon ein bisschen verschrumpelt und vom Regisseur per Videokamera eingefangen.
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Nur noch mal zusammengefasst: Wenn man nicht möchte, dass Theater in der Bedeutungslosigkeit verschwindet, muss man dort neue Wege beschreiten. Nicht jeder mag dabei Urin und Blut und Sperma für die richtigen Mittel halten, aber es gibt natürlich so etwas wie „Freiheit der Kunst“. Außerdem ist das Stück erst ab 18, jeder weiß, was einen da erwarten könnte, nämlich intensives und anderes Theater, das man nur mit großer Spießigkeit als „perverses Theater“ beschreiben kann.