
Kraftwerk wird in aller Welt gefeiert, klar. Pioniere der elektronischen Musik, ungemein einflussreich, ein nahezu perfektes Gesamtkunstwerk aus Sound und Design. Die letzte relevante Veröffentlichung von Kraftwerk liegt allerdings fast 40 Jahre zurück. Und es sieht nicht so aus, als würde noch mal etwas Neues kommen. Jetzt ist aber gerade etwas erschienen, was sich mehr als nur ein bisschen nach Kraftwerk anhört. „Gesamtklärwerk Deutschland“ von Meese und Hell. Also DJ Hell aus Bayern und Jonathan Meese , der Künstler (unterstützt von seiner Mutter Brigitte). Ist das eine gute oder eine schlechte Nachricht für Kraftwerk-Fans? Und was hat es mit dem Titel auf sich? Konnte ich alles klären mit den Meeses und mit Hell. (Wer lieber hört als liest:
Hier der Link zum Audio-Beitrag).
Es ist das zweite gemeinsamen Werk von Hell und Meese. Beim Debüt vor vier Jahren (Hab keine Angst, hab keine Angst, ich bin deine Angst) haben sich die beiden noch am Sound von Deutsch-Amerikanische Freundschaft, an DAF, abgearbeitet – auch nicht ganz unwichtig. Auf „Gesamtklärwerk Deutschland“ begeben sie sich aber direkt zum Gral der elektronischen Musik „Made in Germany“.
Meese sagt dazu: „Ich find Kraftwerk phänomenal. Das Größte, wahnsinnig, steht für mich für Deutschland, für Europa, für Liebe, für alles, was toll ist, was großartig ist. Wirklich große Verbeugung. Und ich find es Wahnsinn, was der DJ Hell da mit uns veranstaltet hat. ein Befreiungsschlag, wirklich, von Herzen alles gemacht.“
Die Rollenverteilung bei diesem „Kraftwerk 2.0“-Projekt ist auch klar: Jonathan Meese, Kunst-Chaot, Krawall-Artist, Apokalyptiker, sorgt für die Texte. Und Helmut Geier alias Hell, DJ und Produzent, für den entsprechenden Klang:
„Es ist ja keine Kopie oder irgendwie ne versuchte Annäherung. Ich habs ein paar wichtigen Leuten geschickt, auf deren Meinung ich wert lege, und die sagen: Es klingt alt und gleichzeitig modern. Und das finde ich eigentlich die treffendste Definition“, erzählt er.

Hell ist 62, Meese 55 Jahre alt. Der Sound, der ihr neues Album bestimmt, um die 40: Die Kraftwerk-Alben „Computerwelt“ und „Electric Café“ standen offensichtlich Pate für „Gesamtklärwerk Deutschland“. Kraftwerk damals klanglich nicht mehr ganz Speerspitze der elektronischen Musik und auch thematisch näher an der Gegenwart der 80er als an der Zukunft. Aber natürlich hervorragendes Material, aus dem sich in retroverliebten Zeiten neues Altes formen lässt. Wie das Ralf Hütter findet, einzig verbliebenes Ur-Mitglied von Kraftwerk? Hell sagt:“ Na er hat sich noch nicht gemeldet. Wird man sehen, was er dazu sagt. Aber ich glaube ich habe ein sehr freundschaftliches Verhältnis zu Kraftwerk. Wenn wer das Album versteht oder mögen wird, dann ist es Ralf Hütter.“ Wirklich? Kraftwerk geben ja ungern die Kontrolle über ihre Musik, ihren Sound ab. Und dann ist da ja auch noch diese bereits erwähnte ganz und gar un-kraftwerksche Komponente: Der Text von Jonathan Meese. Plakativ und rätselhaft, rufend, zischelnd, elektronisch verfremdet. Wie so oft beschwört Meese die alles überragende Kraft der Kunst. Deutschland als Gesamtkunstwerk, Deutschland als Gesamtklärwerk – was auch immer das genau heißen soll. Jonathan Meese: „Es muss sehr viel geklärt werden. Und das kann nur die Kunst, also Liebe, Respekt. Das kann nicht irgendwas anderes. Wir wollen immer, dass die falschen Leute uns retten. Aber die werden uns nicht retten. Sondern die werden uns mehr und mehr in die Scheiße reiten und wir müssen halt einer Macht vertrauen, die viel viel größer und auch kleiner ist. Mami vertraut uns, wir vertrauen Mami. Mehr geht doch nicht.“ Mami, also Brigitte Meese, ist mittlerweile 95 Jahre alt. Seit Jahrzehnten weicht sie ihrem Sohn kaum von der Seite, ist Teil seiner Kunst. Inhaltlich interessant wird „Gesamtklärwerk Deutschland“ immer dann, wenn Mutter und Sohn in eine Art Dialog treten. Brigitte Meese als Lady Toleranz, Sohn Jonathan als Apokalyptiker. Und Hell macht tolle Sachen. Gerne hätte man von den Dreien etwas mehr über ihre Arbeitsweise erfahren. Es gab wohl mehrere Aufnahme-Termine, aber wer da auf wen reagiert, wie viel Mitsprache sich gegenseitig erlaubt wird und ob Hell immer alles versteht, was die Meeses da sagen, bleibt auch im Interview unklar: Hell: „Ich will das gar nicht so genau definieren, was dann im Studio ist und wie wir agieren. Das geht ja keinen was an.“ Kunst ist Chef, Kunst ist rätselhaft. Man kann dieses „Gesamtklärwerk Deutschland“ für großen Quatsch halten. Oder für Kunst. Auf jeden Fall macht es Spaß, sich darauf einzulassen und die Kraftwerk-Reminiszenzen zu entschlüsseln. Wahrscheinlich ist es der Höhepunkt in der Zusammenarbeit von Hell und Meese – ihre nächste Platte soll ein Speed- und Death-Metal-Album werden. Und die danach eine Märchenplatte. Nun gut.
Schlüsselworte: Meese, DJ Hell, Techno, Kraftwerk