Die Wildente - was für ein Theater!

Da wohnt man also in der Großstadt, in Berlin, hält sich für mit allen Wassern gewaschen und glaubt, schon alles gesehen zu haben. Und dann das: Ein Theaterstück, das einen von den Socken haut. Ein Stück, das echt krass ist, verstörend und faszinierend. Eigentlich gar nicht so richtig Theater, wie wir es sonst kennen. Kein „Vorhang auf!“, keine feste Anfangszeit, kein Schlusspunkt. Sondern Theater rund um die Uhr. 24 Stunden am Tag. Wochenlang. Umsonst, für alle, die sich in der Kastanienallee im Prenzlauer Berg hinter die schwarzen Vorhänge trauen, auf denen steht, dass man erst ab 18 rein darf.
Die Wildente heißt das Stück. Bzw. „Vildanden“, denn es stammt eigentlich aus Norwegen, Henrik Ibsen hat es vor über 125 Jahren geschrieben. Aber mit Fakten kommt man hier nicht weit, eigentlich muss man ganz anders anfangen, wenn man über diese Inszenierung (eine Koproduktion von "Black Box Teater Oslo" und "Festspillene i Bergen" gemeinsam mit der Berliner Volksbühne im Prater an der Kastanienallee) schreibt. Also:

Nach dem Zurückschlagen des schwarzen Eingangsvorhangs, das: Eintönige, hypnotisierende Trommeltöne, die einem um die Ohren schlagen. Ein gemaltes, dunkles Bühnenbild, eine Straße wohl, eine Häuserfassade, dahinter blitzt das Licht kurz auf, die Menschen, die hier mitspielen, haben seltsam aussehende Gesichter, erst nach mehrmaligem Hinsehen wird klar: Sie tragen Masken. Gummimasken vermutlich.
Foto Theaterstück Wildente

Eine Stimmung wie im Kabinett des Dr. Caligari, krass, verstörend, faszinierend. Sind das SA-Männer, die da scheinbar sinnlos im Takt der Musik langschreiten, in ihrer Hand jeweils ein schwarzes Paket? Nein, wohl keine SA-Männer. Aber trotzdem seltsam. Minutenlang sieht man ihnen zu, wie sie gehen, hinter der Fassade verschwinden, an der anderen Ecke wieder herauskommen. Es passiert eigentlich nichts, trotzdem hält es einen zehn, zwanzig, dreißig Minuten hinter der Scheibe – die laute Musik, die morbide Stimmung, sogar der eigentümliche Geruch des extra für diese Aufführung erbauten Zuschauergangs fesseln einen. Ja, es hat was von Geisterbahn und es spielt keine Rolle, dass man nichts über dieses Stück weiß und keine der handelnden Figuren wiedererkennt.
Wildente 2

Außer Dr. Relling, dessen Namen auf seine Brust geschrieben ist. Erst hält er führerähnlich eine Rede von der „Lebenslüge“, die Stimme furchteinflößend verfremdet. Später wird er in einer blutigen Operation einem Mann die Augen herausnehmen und durch neue ersetzen, die „Methode ist probat“, erfahren wir im dutzend-, vielleicht sogar hundertfach dazu wiederholten Satz.
Wildente 3

Zum Glück wohne ich gleich neben dieser provisorischen, aber so gelungenen Bühne. Und so sehe ich, wann immer ich komme oder gehe, immer wieder in diesem Theater vorbei. Wundere mich, dass ich endlos lange ausharre und darauf warte, dass es mit der Handlung, die ich nicht verstehe, die so dermaßen in die Länge gezogen ist, dass sie keine Rolle mehr spielt, irgendwie weitergeht. Was singt Dr. Relling da? Ach ja: „Nimmt man dem Durchschnittsmenschen seine Lebenslüge, nimmt man ihm zu gleicher Zeit sein Glück.“
Wildente 1

Also, noch mal kurz raus, ein Bier beim Türken nebenan gekauft - man ist schließlich in Berlin - und wieder rein. Eine Art Clown, der gar keine Rolle in diesem Stück zu haben scheint, sondern frei agieren darf (so sieht es jedenfalls aus), wälzt sich am Boden. Er fragt, per Mikrofon, ob er ein Kunststück präsentieren soll? Dann pinkelt er sich selbst in den Mund und spielt mit dem Urin. Noch Stunden später, zurück in der Wohnung, fragt die ehemalige Schauspielschülerin, ob das mit dem Pinkeln wohl echt gewesen sei? Und legt sich dann selbst auf den Boden, nicht, um das Kunststück zu wiederholen, sondern um zu sehen, was es mit einem macht, so am Boden zu liegen. Auch das: Ergebnis des Wildenten-Theaterbesuchs.
Wildente Theater

Wie gesagt: Das Stück, die Handlung, interessiert zunächst gar nicht so. Dann aber will man es doch wissen, wozu gibt es schließlich das Internet? Schauspielführer, sogar ein altes Reclam-Heft, in das man zuvor nie geschaut hatte, wird zu Rate gezogen. Die Story ist kompliziert und kaum wiederzuentdecken, noch schwerer wiederzugeben. Macht aber nichts. Lieber wieder zurück. In den verdunkelten Gang. Zurück zum krassen Stück. Zurück dahin, wo Theater auf einmal eine Rolle spielt. Dorthin, wo die Zuschauer sich selbst in absurde Dialoge verwickelt finden: „Dort in dem Glas, sind das Augen?“ „Wie lange laufen die denn schon rum?“ „Seit einer halben Stunde? Wie lange seit ihr denn schon hier?“ - „Waaaas?“

P.S.: Auf der Volksbühnen-Seite gibt es ein Video zum Stück. Die Fotos hier treffen es aber besser.

P.P.S.: Das ganze soll laut Volksbühnen-Webseite noch bis Ende Mai gehen.

P.P.P.S.: Jetzt war ich doch gerade schon wieder da und habe eine weitere Figur identifiziert: Den jungen Gregers. Warum er ein Wagner-T-Shirt trägt? Schwer zu sagen,,,
Wildente 4